Außer
ihrer Würde haben die Griechen nichts mehr zu verlieren
von
Kostas Vaxevanis
Mein Vater
geht auf die 90 zu. Er hat einen Weltkrieg, einen Bürgerkrieg und
zwei Diktaturen erlebt. Mehr als 60 Jahre hat er auf dem Bau
geschuftet, er hat drei Kindern das Studium ermöglicht. Vor Kurzem
wäre er fast gestorben, als er in ein Krankenhaus gebracht wurde und
mit Hunderten anderer Patienten, die ebenfalls auf ihre Behandlung
warteten, Schlange stehen musste.
Seine
Familie kämpfte gegen die Nazi-Invasoren. In der Nachkriegszeit
wurde Griechenland von Nazi-Kollaborateuren regiert, obwohl nicht
sie, sondern andere das Land befreit hatten. Die beschworene
»kommunistische Gefahr« machte aus den einstigen Kollaborateuren
auf einmal die wärmsten Befürworter der Demokratie. Sie rafften die
für den Wiederaufbau bestimmten Gelder aus dem Marshallplan an sich
und plünderten am Ende auch noch den Strukturfonds der Euro päi
schen Union.
Ich habe
meinen Vater nie Sirtaki tanzen sehen oder stundenlang am Strand
singen hören, nie konsumierte er mehr, als er produzierte – er
widersprach den Stereotypen, die sogar Spitzenpolitiker des Auslands
verbreiten. Im Gesicht meines Vaters erkenne ich gleichwohl einen
Alexis Sorbas. Nicht den unbekümmerten Hallodri, sondern einen, der
seine Würde und den griechischen Geist des filotimo bewahrt – ein
Wort, das es in anderen Sprachen nicht gibt und das so etwas wie
Ehrbewusstsein bedeutet.
Mein Vater
trug Ausländern nie etwas nach. Weder den Deutschen, die
Griechenland überfallen, noch den Amerikanern, die dem Land ihren
Willen aufgezwungen hatten, nicht einmal Griechenlands Erbfeinden,
den Türken. Wenn mein Vater im Sommer zufällig neben einem Fremden
sitzt, fühlt er sich verpflichtet, ihn zu einem Getränk einzuladen,
weil der Reisende Griechenland durch seinen Besuch eine Ehre erwiesen
hat.
Seit fünf
Jahren ruft mein Vater fast jeden Tag an und fragt mich, was aus
unserem Land werden soll. Wenn Griechenland zusammenbricht, wenn
seine Enkel zu Dienern werden, wenn wir einen dritten Weltkrieg
erleben. Es geht ihm genauso wie seinen Landsleuten: Wie alle anderen
Griechen erwartet er den Tag der Abrechnung, eine Katastrophe und
zugleich ein gnädiges Ende der quälenden Situation, die das Land
durchlebt.
Jahrzehnte
nach der Gründung des vereinten Europa wird der Süden des
Kontinents von Angst und Armut heimgesucht.
Der Union
gelingt es nicht, den von ihr gepriesenen Idealen Leben einzuhauchen,
Solidarität zu beweisen und die Probleme nach dem
Gleichheitsgrundsatz zu lösen. Stattdessen füllt sie wie ein
mittelmäßiger Buchhalter ein Kontorbuch mit Einträgen, die das
Leben von Menschen beschreiben sollen.
Europas
Krise wurde durch die Entscheidung der Regierungen ausgelöst, die
Schulden des Bankensektors in Staatsschulden umzuwandeln. Obwohl die
Regeln des Marktsystems vorschreiben, dass gescheiterte Unternehmen
den Betrieb einstellen müssen, wurde uns ein weiteres Stereotyp
serviert, nämlich, die Banken seien »zu groß, um unterzugehen«.
Es liegt an diesen Stereotypen, dass Europa nicht aus seiner
Dauerkrise herausfindet, denn es muss für die Fehler, die Arroganz
und die Gier der Banken zahlen.
Griechenland
ist außerstande, seine Schulden zurückzuzahlen, wie auch immer sie
entstanden sein mögen. Durch eine Bestrafung Griechenlands würde
das ökonomische Gleichgewicht auch nicht wiederhergestellt. Die
griechische Wirtschaft liegt am Boden; die von den Europäern
auferlegte Sparpolitik hat das Land in die Depression geführt. Doch
anstatt die falsche Medizin abzusetzen, wird sie immer weiter
verordnet. Mit ihrem ständigen Gerede von einem möglichen »Grexit«
haben Schäuble und Dijsselbloem ein Klima der Unsicherheit
geschaffen und damit auch diejenigen abgeschreckt, die fähig und
willens gewesen wären, in Griechenland zu investieren.
Griechenlands
Austritt aus der Europäischen Union würde einen unheilvollen Domino
effekt auslösen. Als 2008 eine Bank in den USA zusammenbrach, riss
sie die Weltwirtschaft mit sich. Man stelle sich vor, was beim
Zusammenbruch eines ganzen Landes geschehen würde.
Über
Griechenland zieht ein neuer Tag herauf: einer, an dem seine Menschen
verzweifelt sind. Das griechische Volk hat nichts mehr zu verlieren
außer seinem Grundprinzip, das meinem Vater so viel bedeutet: seiner
Würde.
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